Digitalisierung im Bildungsbereich

Interview mit Dr. Sarah Henkelmann

Dr. Sarah Henkelmann ist seit 2016 Sprecherin des Netzwerk Digitale Bildung. Sie berät Ministerien, Schulen und Hochschulen zum Einsatz interaktiver Medien und Technologien. Als ehemalige Leiterin eines internationalen Masterstudiengangs hat sie viel Unterrichts- und Lehrerfahrung. Daneben war sie in der Lehrerausbildung tätig.

Rainer Völker:
Frau Henkelmann, Sie bzw. andere Experten des Netzwerk Digitale Bildung beraten Ministerien, Schulen, Hochschulen und andere öffentliche Einrichtungen. Was sind die zentralen Empfehlungen, die Sie „in Sachen Digitalisierung“ geben?

Sarah Henkelmann:      
Es kommt darauf an, wer genau eine Beratung benötigt. Ein Ministerium zu beraten, ist sicherlich etwas anderes als eine Schule oder einen öffentlichen Träger zu beraten. Wenn es um öffentliche Träger oder Schulen geht, so ist der Blick auf die Fördergelder des jeweiligen Bundeslandes zu richten, denn neben dem Digitalpakt Schule, haben auch die Bundesländer einige weitere Fördermittel zur Digitalisierung ihrer Schulen bereitgestellt. In der Beratung auf Länderebene geht es oft um die Ausbildung und Weiterbildung der Lehrkräfte.       
Wenn wir über die Digitalisierung der Bildung sprechen, so sprechen wir über digitale Transformationsprozesse innerhalb der Organisationsform Schule. Das ist viel mehr als die Schulen ans Internet anzubinden. Wir sprechen über einen Kulturwandel in der Organisationsform Schule, den es zu beachten gilt. Zum Beispiel muss man das Thema Schulung von Lehrkräften wiederkehrend im Blick zu haben und Schulungen mehrfach im Jahr umsetzen. Es geht um die Investition in digitale Ausstattungen für Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte. Denn am Ende muss zeitgemäßer digitaler Unterricht Einzug in den Schulalltag halten. Ihr Schulalltag muss Schülerinnen und Schüler auf die Zukunft von Morgen vorzubereiten. Wir machen Mut! Mut, sich dem Thema Digitalisierung im Kontext Schule anzunehmen.             
             
Rainer Völker: 
Ich denke, das mit dem Thema „Mut“ müssten Sie etwas erläutern. Wie soll denn das aussehen – gerade wenn eben keine Mittel zur Verfügung stehen?             

Sarah Henkelmann:      
Die finanziellen Möglichkeiten sind das eine, aber es gilt auch sich den Themen der Digitalisierung gegenüber zu öffnen, anzufangen und loszulegen. Das geht, wenn man will, an etlichen Stellen durchaus. So z. B.  beziehen Lehrer oder Schulen vorhandene Endgeräte der Schüler in den Unterricht mit ein. Das muss natürlich adäquat zu den Klassenstufen passen. Aber Search-Aufgaben, Kommunikationsthemen u. a. lassen hier schon für sehr sinnvolle Bildungsprojekte zu. Gerade skandinavische Länder leben initiatives Verhalten vor, indem sie z. B. in kleinen abgegrenzten Regionen Modellprojekte starten und bei Erfolg rasch übertragen.           

Rainer Völker: 
Sie haben einmal gesagt, die Kreidetafel werde obsolet, aber Schulhefte werden wir weiter benötigen. Könnten Sie das näher erläutern?           

Sarah Henkelmann:      
(lacht) Ich werde immer wieder auf diesen Satz angesprochen. Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass gerade das eigene Schriftbild einen ganz wesentlichen Faktor zum Lernen darstellt. Das eigene Schriftbild produziert ein Bild, eine Visualisierung. Sehr viele Schülerinnen und Schüler können sich Bilder, sehr viel besser merken und es abrufen, wenn es nötig wird. Maschinell erzeugte Schriftbilder sind weniger einprägsam. Es ist meine persönliche Meinung, dass wir Schulhefte und auch das Schreiben mit einem Füllfederhalter weiterhin in der Schule haben werden. Schülerinnen und Schüler auch weiterhin in der 1. Klasse analog schreiben lernen. Renommierte Unternehmen haben es auch erkannt und überführen sehr klug, wie ich finde, das analoge Schreiben in das digitale Zeitalter. Digitale Füller, digitales Papier kombiniert mit einer App halten Einzug in unseren Alltag. Ich verfolge das mit Interesse.

Rainer Völker:
Deutschland hat Digitalisierungsprobleme – in vielen Bereichen. Vor allem auch im Bildungsbereich. Das ist seit vielen Jahren bekannt. Bitte um Ihre ehrliche Einschätzung – woran liegt es: Wird zu wenig Geld bereitgestellt, sind es Umsetzungs-/Managementprobleme – ähnlich wie beim Berliner Flughafen oder anderen staatlichen / öffentlichen „Baustellen“ – oder was sind die tatsächlichen Ursachen?

Sarah Henkelmann:      
Eigentlich ist es all das zusammen und noch ein paar Punkte mehr. Wir fangen mal an und deklinieren es.
Wir leben in einer föderalen Struktur, das heißt, die Länder sind für die Lehrkräfteaus-, fort- und -weiterbildung zuständig. Die Länder sind aber nicht für die Ausstattung und damit der Digitalisierung der Schulen zuständig. Der Bund ist formal für beides nicht verantwortlich. Für die Ausstattung der Schulen sind die kommunalen Träger in der Pflicht. Leider haben wir seit Jahrzehnten einen Investitionsstau in unseren Schulen. Mit dem Ergebnis, dass wenn wir anfangen, in Schule zu investieren, wir sehr schnell im Millionenbereich landen. Das ist insofern weniger erfreulich, denn es sagt auch aus, dass unsere Schülerinnen und Schüler in Schulen unterrichtet werden, die einem klassischen Gebäudestandard nicht mehr standhalten. Vor vielen Jahren – vor der Pandemie – haben wir zum Beispiel in Deutschland sehr lautstark über das Thema Schultoiletten gesprochen. Das Thema ist in den Hintergrund gerückt. Aber gravierend etwas verändert hat sich hier nicht. Die Digitalisierung der Schulen ist aber genauso auch ein bauliches Thema, denn ich greife in die Struktur eines Gebäudes ein.   
Wir wissen alle, dass wir Geld für die Umsetzung der Digitalisierung unserer Schulen in Deutschland benötigen und ein jahrzehntelanger Investitionsstau hier vorhanden ist. Wie ist dieser aufzulösen? Wir haben über den Digitalpakt Schule mit den 5,5 Milliarden Investitionssumme begonnen. Mittlerweile – und auch pandemiebedingt – wurden die Fördergelder weiter erhöht, auf eine Summe von 7,12 Milliarden. Aber dennoch ist leider die Umsetzung bzw. der Mittelabfluss sehr behäbig. Lange Antragsverfahren erschweren den Prozess, zu wenig Personal seitens der kommunalen Träger, die ebenfalls Anträge einreichen müssen, Ausschreibungen erforderlich sind und einiges mehr. Ebenso ist eine Unsicherheit bei den kommunalen Trägern zu spüren. Da eine dauerhafte Finanzierung nicht gesichert ist. Also was passiert mit angeschaffter Hardware nach 5 Jahren beispielsweise? Die muss irgendwann ausgewechselt werden, das ist formal im Digitalpakt aber nicht geregelt. Was auch nicht geregelt ist, ist der Punkt Service und Wartung. Es ist völlig klar, dass Schulen dabei Unterstützung, professionelle Unterstützung benötigen. Auch das kostet viel Geld. Es ist nicht Aufgabe von Informatiklehrkräften IT-Support an der eigenen Schule zu leisten. Ihr Auftrag ist Informatik zu unterrichten und dafür brauchen wir in Deutschland jede nur verfügbare Lehrkraft. Natürlich hört sich die Summe 7,12 Milliarden groß an, aber da wir einen Investitionsstau in Schulen haben, der seit Jahrzehnten angestaut ist, benötigen wir eine noch viel größere Summe, um auf ein Level zu kommen wie es unsere Nachbarländer haben.

Rainer Völker:
Oft werden ja skandinavische Länder als Beispiel herangezogen – können Sie dazu Ihre Erfahrungen teilen?

Sarah Henkelmann:      
Schule ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schule ist zentrales Thema, wenn wir über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sprechen. Dazu gehört auch, etwas zu wagen, etwas auszuprobieren. Genau das machen unsere skandinavischen Nachbarn und das Baltikum uns seit Jahrzehnten vor. Sie probieren etwas Neues aus in kleinen abgesteckten Regionen, evaluieren sehr engmaschig und wenn etwas gut funktioniert hat, dann wird es in weitere Regionen überführt. Das erleben wir bei uns nicht, bei uns sind es einzelne wenige Schulleiterinnen und Schulleiter, die Veränderungen vornehmen und damit auch Leuchttürme in Deutschland darstellen. Ich bin eine starke Verfechterin, alle Schulen in Deutschland zu Leuchtturmschule umzubauen. Wir müssen davon wegkommen, einzelne Schulen zu Leuchttürmen auszubauen. Das ist etwas, das die skandinavischen Länder sehr gut machen. Ich habe einmal das große Vergnügen gehabt, mit der Bürgermeisterin der Stadt Helsinki zu sprechen. Die Stadt trägt dafür Sorge, dass jede einzelne Schule in der Stadt zur besten Schule entwickelt wird. Es für die Kinder der Stadt also egal ist, in welchem Stadtteil sie wohnen. Die Kinder sollen in jeder Schule der Stadt mit der besten digitalen Bildung unterrichtet werden. Kinder erwerben hier die Kompetenzen der Zukunft. Oder ein anderes Beispiel: Norwegen hat vor einigen Jahren jede zweite Schule im Land neu gebaut. Wir sehen also, Bildung hat im Norden Europas eine zentrale gesellschaftliche wichtige Aufgabe zu erfüllen. Warum haben wir das nicht? Ich wünsche mir hierzulande genauso mutige Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, mutige Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, die unsere Regionen voranbringen. Schule ist der Schlüssel zum Erfolg unserer Region.

Rainer Völker:
Eine zentrale Aussage von Ihnen ist ja, dass „Pädagogik vor Technik geht“. Das ist einfach gesagt, aber was kann das im Einzelnen bedeuten? Der Stifterverband und McKinsey haben 2021 eine zentrale Studie vorgelegt, bei der neben digitalen Schlüsselkompetenzen auch auf „transformative Kompetenzen“ hingewiesen wurde. Letztere umfassen z. B. folgende Fähigkeiten: In unserer „VUCA“-Welt, mit z. T. einseitiger Berichterstattung, Fake News etc. gilt es u. a. sich seine Urteilskraft zu erhalten, mit Ambiguitäten umzugehen oder auch berichtigte Wokeness – und Political-Correctness-Anforderungen von Dogmen und Ideologien zu trennen. Was ist hinsichtlich der Bildung von transformativen Kompetenzen zu tun?

Sarah Henkelmann:      
Eine zentrale Aufgabe von Schulen ist es, Schülerinnen und Schüler auf das 21st Century vorzubereiten. Damit einhergehend sind auch die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts, wie Kommunikation, kritisches Denken, Kollaboration und Kreativität gemeint. Die OECD forscht seit einigen Jahren auch zum sozio-emotionalen Lernen. All das sind Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler heute erwerben müssen, um auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein.
Pädagogik vor Technik sagt aus, dass die Lehrkraft weiterhin zentral im Unterrichtsgeschehen mit der Pädagogik anleitend für die Schülerinnen und Schüler präsent ist. Die Technik also nicht im Vordergrund stehen darf, sondern das Unterrichtsgeschehen, eben Pädagogik vor Technik. Das erfordert natürlich Technik, die das abbilden kann, sprich für Bildung gebaut ist.

Rainer Völker:
KI gewinnt auch in zukünftiger Bildung immer mehr an Bedeutung. Große Ängste (vor Plagiatswellen z. B.) werden ebenso schon im Bildungsbereich entwickelt wie entsprechende Abwehrstrategien oder auch Konzepte für einen proaktiven Umgang. Was empfehlen Sie Schulen, Hochschulen und andere möglicherweise betroffenen Einrichtungen?

Sarah Henkelmann:      
Die Digitalisierung wird nicht mehr aufhören. Das kann man gut finden, oder das kann man schlecht finden. Mit KI verhält es sich genauso. KI wird Einzug in unser aller Leben haben.
Wir stecken beim Thema KI und Bildung noch in den Kinderschuhen. Ich gehe davon aus, dass sich das bald ändern wird. Denn KI ist der Schlüssel zu weiterer Individualisierung im Unterricht. Also lassen wir uns doch einmal positiv darauf ein und schauen, inwiefern es auch Möglichkeiten bietet, Schülerinnen und Schüler einen geeigneteren, einen individuelleren Zugang zu Bildung zu ebnen. Sie merken, ich habe eine proaktive Haltung zum Thema KI in Bildung. Generell halte ich auch nichts von Verboten. Wir müssen uns vielmehr überlegen, wie wir einen sinnvollen Umgang mit den Werkzeugen finden können. Das ist Aufgabe von zeitgemäßer Pädagogik. Das ist Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen, Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, zu diskutieren, zu testen, gerne auch im Einklang mit Schülerinnen und Schülern. Gerade sie haben oft inspirierende Ansätze, Ideen und Vorstellungen im Einsatz der Technologien.

Rainer Völker:
Mit der Digitalisierung verschiedener Lebensbereiche sind sicher auch etliche Gefahren verbunden. Nicht von ungefähr gibt es Meinungen und Studien, die auf die Notwendigkeit einer  „digitalen Ethik“ und auf gesundheitliche Gefahren hinweisen. Wie ist Ihre Position dazu?           

Sarah Henkelmann:      
Es geht ja beileibe nicht um eine Digitalisierung um jeden Preis. Kritischer Umgang mit den einzelnen Thematiken und Aufbau von Resilienz ist uns wichtig; eben auch sich der digitalen Erreichbarkeit zu entziehen zu können ist ein zentraler Aspekt. All das ist Teil unserer Vorschläge für eine digitale Bildung. Durch durchdachte und strukturierte Bildungsangebote geht es ja unter anderem darum, Auswüchsen und Kritiklosigkeit von „Konsumenten“ im Hinblick auf digitale Angebote entgegenzuwirken.