Interview mit Prof. Dr. Ziad Mahayni
Der Begriff „Paradigmenwechsel“ wurde erstmals 1962 vom amerikanischen Philosophen Thomas Kuhn geprägt. Der Begriff beschreibt eine grundlegende Veränderung der Konzepte und Praktiken, wie etwas funktioniert oder erreicht wird. Was sind denn eigentlich neue, bestimmende Perspektiven, die das Innovations-geschehen der Zukunft bestimmen?
Das Digitalzeitalter, an dessen Eingangspforte wir stehen, ist durch zwei grundlegende Paradigmenwechsel gekennzeichnet. Es ist 1.) das Zeitalter, in dem wir davon ausgehen müssen, dass alles, was erdacht werden kann, auch gemacht werden kann. Es ist anders formuliert das Zeitalter in dem aus Science-Fiction Science wird. Über fliegende Autos, gedankengesteuerte Körpererweiterungen, Gedankenlese-technologien haben vor dem Digitalzeitalter Literaten und Fantasten nachgedacht, heute sind es Ingenieure. Tatsächlich sind alle drei genannten Beispiele längst realisiert. Durch die exponentielle Entwicklung im Bereich der Digitaltechnologie wird sich diese Entwicklung weiter beschleunigen. Konnten wir früher davon ausgehen, dass manche Dinge schlichtweg nie möglich sein werden, sollten wir im Digitalzeitalter von der gedanklichen Prämisse ausgehen, dass alles möglich ist. Vor-paradigmatisch war Innovation von der Frage getrieben, ‚Was ist machbar‘. Post-paradigmatisch müssen wir uns – wenn alles machbar ist – vielmehr die Frage stellen: ‚Was ist sinnvoll?‘
Das Digitalzeitalter ist 2.) das Zeitalter, in dem die Technologieentwicklungs-geschwindigkeit größer wird als Technologieadoptionsgeschwindigkeit von Menschen und menschlichen Organisationen. Mit anderen Worten, nicht mehr die Technik, sondern der Mensch wird zum Bottleneck der Entwicklung. Das bedeutet, dass wir als Gesellschaft regeln müssen, wo dem Menschen und wo der Technik „Vorfahrt“ eingeräumt werden sollte. Das wiederum bedeutet, dass wir Regulierung ganz anders verstehen müssen, nicht als ein verhinderndes, sondern als ein gestaltendes Element.
Digitalisierung und KI können und werden wesentliche Treiber von Innovationen, aber auch vom Innovationsmanagement sein. Wie müssen sich Unternehmen aufstellen, um mit diesem Megatrend umzugehen? Welche Unternehmensprozesse erfahren eine fundamentale Veränderung?
Die Vorstellung, dass man Innovation an eine R&D-Fachabteilung delegieren könne, die im wesentlichen aus Fachexperten aus Wissenschaft und Technik besteht, basiert auf vorparadigmatischen Denken, insb. auf der Idee, dass allein der Stand der Technik darüber entscheide, welcher Innovationsschritt als nächstes möglich ist. Postparadigmetisch, wenn im Prinzip alles möglich ist, sollte Innovation größer gedacht und im Herzen eines Unternehmens verankert werden. Während im Umsetzungsteil des Innovationsprozesses natürlich weiterhin Fachexpertise von Nöten sein wird, kann der Ideation-Teil, massiv geöffnet werden. Hier geht es darum in einem nahezu grenzenlosen gewordenen Optionenraum die besten, visionärsten Ideen, Konzepte, Ansätze zu erdenken. Dieser Prozess muss mit Markt- und Kundenverständnis ausgestattet werden kann aber – insb. Wenn disruptive Ideen angestrebt werden – auch von der Einbindung exotischer ‚outside-in‘ Perspektiven profitieren etwa durch die Einbindung von Anthropologen, Künstlern, Philosophen oder Künstlern.
Nicht mehr der Besitz von Wissen bestimmt also die Art der Innovation, sondern der Zugang zum Wissen. Die Unternehmen müssen verstehen, dass die „Closed“ Innovation immer mehr von „Open“ Innovation verdrängt wird. Bedeutet dies ein Ende von Alleinstellungsmerkmalen, wird Innovation zum Allgemeingut?
Innovation bleibt bis auf Weiteres ein Alleinstellungsmerkmal, muss als solches jedoch verstärkt über andere Wege hergestellt werden. Während Wissen an Bedeutung verliert rücken Innovationsgeschwindigkeit und eine sich vor allem an Kundennutzen bemessende Innovationsgüte in den Vordergrund. Da eine „Moralisierung der Märkte“ zu beobachten ist, ist auch davon auszugehen, dass in manchen Kundensegmenten die ethische Güte eines Produkts zu einem Qualitätsmerkmal wird. Um diese zu adressieren, bilden sich neue bzw. variierte Innovationsmethoden wie das „Value-based Engineering“ oder „Ethical Design“ aus.
Kontinuierliche Entwicklungspfade bestimmten bei vielen Unternehmen häufig die „Denke“ im Innovationsprozess. Führen KI und Digitalisierung zu mehr disruptiven, sprunghaft neuen Geschäftsmodellen? Welche Beispiele lassen sich dafür anführen?
Es wird weiterhin für Unternehmen wichtig sein, sowohl kontinuierliche Verbesserungsprozesse zu beherrschen wie auch die Arbeit an sogenannten ‚Moon-Shots‘. Diese müssen jedoch organisatorisch und prozessual anders bearbeitet und vorangetrieben werden. Dass KI zu mehr disruptiven Veränderungen führen wird, ist anzunehmen. KI ist eine ‚general purpose technology‘, d.h. eine Meta-Technologie, die sich in zahlreichen anderen Technologien einnisten wird und diesen zu signifikanten Innovationssprüngen verhelfen kann. Als ein Beispiel unter vielen, kann die Robotik genannt werden. Insbesondere humanoide Robotor, lange Zeit auch eher ein Thema der Science-Fiction, werden in sehr naher Zukunft Marktreife erlangen. Der wesentliche Grund dafür ist die jüngere Entwicklung im Bereich der KI, mit der die Roboter trainiert werden.
Disruptive Technologien, signifikante Paradigmenwechsel wie KI /VR/ Cloud, um nur einige zu nennen, verlangen auch starke mentale Veränderungen in einem Unternehmen. Was muss getan werden, um alle Mitarbeiter des Unternehmens mitzunehmen, damit diese selbst zu Treibern der Veränderung werden?
Es ist zu erwarten, dass mit dem Anstieg der Veränderungsdynamik in Unternehmen auch der Veränderungswiderstand eher wachsen als abnehmen wird. Dies umzukehren ist eine Herkulesaufgabe für alle Unternehmen. Was in Kürze dazu gesagt werden kann, ist, dass das eine Aufgabe ist, die nicht innerhalb des Systems gelöst werden kann, sondern das System als Ganzes betrifft.
Last not least: der Markt, die Kunden des Unternehmens sind die einzige Einnahmequelle eines Unternehmens- trivial, nicht wahr? Die „Outside- In View“ löst mehr und mehr die „Inside-out View“ ab. Kundenerwartungen treiben die Innovationen an. Wie ist die Unternehmen-Kundenbeziehung zukünftig neu zu denken?
Die Schnittstelle zum Kunden ist die wichtigste Beziehung, die ein Unternehmen eingeht. Sie ist Nabelschnur und Achillesferse zugleich. Veränderungen an der Schnittstelle können empfindliche Folgen haben. Der zunehmende Einzug von KI und digitalen Tools wird natürlich gerade auch diese Schnittstelle betreffen, von Marktprognosen, Customer Bahaviour Tracking bis zum Vertrieb. Die Frage, die sich Unternehmen werden stellen müssen ist, inwieweit Sie diese Schnittstelle digitalen Systemen anvertrauen wollen. Meine These ist, dass hier ein Ort ist, an dem Menschen eine Rolle von steigender Bedeutung spielen werden, jedoch weniger in der Funktion als Träger von Fachwissen (das wird zunehmend eine Aufgabe der Technologie), sondern als Vertrauensbilder.