Prof. Dr. Dieter Thomaschewski im Gespräch mit Prof. Dr. Friedrich Heinemann, ZEW Leibnitz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
Dieter Thomaschewski: Herr Heinemann, das ZEW ermittelt seit 2006 im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen einen Länderindex, bei dem 21 Industriestaaten bezüglich Infrastruktur, Bildung, Steuern etc. verglichen werden. Trauriges Gesamtergebnis Stand heute: Deutschland befindet sich auf Platz 18 – in diesem Jahr nochmal vier Plätze schlechter, als bei der letzten Studie. Und es gibt – wenn man die BIP-Prognosen anschaut – auch keinerlei Anzeichen zur Besserung. Was sind nun die Bereiche – es werden ja bei der Studie verschiedene Sub-Indices ermittelt – bei der Deutschland am schlechtesten abschneidet.
Friedrich Heinemann: Ich fange einfach mal mit dem Positiven an, weil man das leider recht kurz machen kann: Deutschland ist immer noch im internationalen Vergleich sehr stark bei der Lage der Staatsfinanzen und der Finanzierungssituation des Privatsektors. Das spiegelt in gewisser Weise den Glanz der Vergangenheit wider. Richtig abgestürzt ist das Land hingegen im Subindex Regulierung, außerdem wird die Qualität der Infrastruktur kontinuierlich schlechter bewertet. Beim Themenkomplex Steuern rächt sich, dass die deutsche Steuerpolitik im Grunde seit den 2010er-Jahren in der Passivität verharrt. Um uns herum arbeiten viele Länder an der Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit, nur Berlin meint immer noch, dass Deutschland das nicht nötig habe. Nach unten zeigt die Richtung auch beim Thema Arbeitskosten und Arbeitskräfte. Hier sinkt nicht nur das Volumen der verfügbaren Arbeitskräfte, sondern mit den Bildungsleistungen auch die Qualität, während die Arbeitskosten mit zu den höchsten in der Welt gehören.
Dieter Thomaschewski: Sicherlich gibt es verschiedene externe Einflüsse (Ukraine-Krieg, Inflation etc.), die den Standort Deutschland getroffen haben. Die externen Einflüsse sind das eine, die Politik das andere. Auf welchen Politikfeldern hätten wir in Deutschland eine Chance gehabt beziehungsweise haben sie vielleicht noch (?), es besser zu machen?
Friedrich Heinemann: Unser Standortranking reagiert nicht stark auf kurzfristige Krisen und konjunkturelle Einbußen, weil wir langfristige Standortfaktoren messen. Insofern kann man nicht darauf vertrauen, dass das Bild von selber besser würde, wenn sich das Krisenumfeld beruhigt. Ganz allgemein haben wir in in der Politik und öffentlichen Debatte ein Missverhältnis entwickelt. Sehr ambitionierten Zielen im Bereich Klima und Gesellschaft steht kaum eine Bereitschaft gegenüber, sich die Ressourcen für diese Ziele durch harte Arbeit und unbequeme Reformen zu erarbeiten. Das funktioniert so letztlich nicht mehr. Hier muss wieder mehr Realitätssinn einkehren. Man sollte dazu an den ambitionierten Zielen keine Abstriche machen, aber effizientere Strategien wählen.
Dieter Thomaschewski: Sie haben jetzt die Politikfelder genannt, wo wir gegensteuern könnten. Welche Gegenstrategien würden Sie im Einzelnen sehen?
Friedrich Heinemann: In der Klimapolitik läuft alles viel zu kleinteilig und regulativ. Eine umfassende CO2-Bepreisung könnte die Bürokratie-Lasten hier merklich senken. In den öffentlichen Haushalten kommt es jetzt darauf an, von den Sozialtransfers in Richtung Zukunftsausgaben und Infrastruktur umzusteuern. Zu den Zukunftsaufgaben gehört ganz oben auf der Liste auch das Bildungssystem. All das kostet Geld. Es gibt aber Reformmöglichkeiten, ich denke da an die Rente und das inzwischen im Leistungsniveau überzogene Bürgergeld, wo wir Einsparungen mit sinnvollen höheren Arbeitsanreizen kombinieren können. Auch bedarf es dringend neuer Überlegungen im Bereich Gesundheitswesen inklusive Strategien im Umgang mit der inzwischen ausufernden Flucht in die Krankschreibungen. Es ist gut, dass Menschen bei langer Krankheit wirtschaftlich abgesichert sind in unserem Land. Aber das Gemeinwesen muss nicht jeden Schnupfentag voll durchfinanzieren. Hier geraten inzwischen Arbeits-Normen ins Rutschen, die wichtig für ein funktionierendes Sozialsystem sind. Mir ist klar, dass diese Themen sehr konfliktträchtig sind, aber die Zeiten, solchen Konflikten mit immer mehr Geld aus dem Weg gehen zu können, sind vorbei. In der Steuerpolitik geht es darum, sich die Zielkonflikte zwischen Verteilung und Wettbewerbsfähigkeit wieder einzugestehen. Nicht jede Steuererhöhungen, die man aus Gerechtigkeitsüberlegungen gerne hätte, funktioniert im internationalen Steuerwettbewerb ohne erhebliche ökonomische Schäden.
Dieter Thomaschewski: Dauerthema ist der Bürokratieabbau. Deutschland ist in der Studie unangefochtener „Spitzenreiter“ in Sachen überflüssiger Bürokratie. Was empfehlen Sie genau den Regierenden um hier endlich weiter zu kommen?
Friedrich Heinemann: Die Normenkontrollräte haben mit ihrer Messung der Bürokratiekosten eine gute Arbeit gemacht, sie werden aber zu wenig gehört. Letztlich haben die regulativen Bedenkenträger heute viel zu viel Macht. In der Ausschreibung von Forschungsaufträgen wird den Anbietern inzwischen vorgeschrieben, welches Druckerpapier und welche Druckerpatronen sie zu nutzen haben und in welchen öko-zertifizierte Hotels sie zu übernachten haben. Das ist nicht nur planwirtschaftlich und lächerlich; diese extrem kleinteilige Regulierung erzeugt noch dazu unnötig hohe Kosten zur Erreichung von Umweltzielen. Es ist zudem bedrückend zu sehen, wieviele hoch qualifizierte Menschen sich inzwischen ihr ganzes Berufsleben nur noch mit der Compliance von Regulierung und Besteuerung befassen – das sind letztlich alles unproduktive Tätigkeiten.
Dieter Thomaschewski: Es fehlen Fachkräfte. Gleichzeitig gibt es rund 4 Millionen erwerbsfähige Menschen, die nicht arbeiten. Welche Maßnahmen sehen Sie hier? Welche Rolle spielt dabei das Thema Bürgergeld, das anscheinend Anreize für eine Arbeitsaufnahme reduziert?
Friedrich Heinemann: Wir brauchen umfassend höhere Anreize nicht nur für die Aufnahme einer Arbeit, sondern auch für die Ausweitung der Arbeitsstunden. Das System ist nicht nur für Bürgergeldempfänger leistungsfeindlich. Auch Facharbeiter und normale Akademikerjobs sind mit derart hohen Abgaben für eine zusätzliche Arbeitsstunde („Grenzabgaben“) konfrontiert, dass Freizeit sehr billig erscheint. Der hohe und wachsende Freizeitkonsum ist für unsere Gesellschaft jedoch in Wirklichkeit sehr kostspielig, weil viele Aufgaben im Privatsektor und bei den öffentlichen Leistungen nicht mehr erfüllt werden können. Es gibt hier inzwischen gute Ideen wie z.B. Steuerfreibeträge für einen Ausweitung der Arbeitszeit. Hier ließen sich durch gezielte Anreize große Arbeitsreserven heben. Zum Thema Ausweitung der Arbeitszeit gehört aber natürlich auch eine längere Lebensarbeitszeit. Erfreulicherweise passt sich hier die Realität schneller an die Erfordernisse an, als die Politik. Immer mehr Rentner arbeiten – und das ist nicht nur gut für die Wirtschaft, sondern auch für die Lebenszufriedenheit, die soziale Teilhabe und die Gesundheit älterer Menschen. Vielleicht ist das ein politischer Ausweg: Auf dem Papier bleibt das Rentenalter bei 67, faktisch arbeiten immer mehr Menschen aber bis 70 oder auch länger, wenn sie noch können und Lust haben.
Dieter Thomaschewski: Insbesondere produzierende Unternehmen verlassen Deutschland. Teilweise gibt es Aussagen von Politikern, die dies begrüßen. Durch die Abwanderung dieser energieintensiven Unternehmen – so wird argumentiert – würde die CO2 Bilanz verbessert. Herr Heinemann, Sie sprechen mit vielen Menschen, die in der Politik tätig sind. Ist diesen Politikern, die diese Abwanderung begrüßen bewusst, dass nun in anderen Ländern dieser Welt die Produktion stattfindet und nicht selten die Energie dort gerade aus nicht-erneuerbaren Energiequellen stammt und somit der Nettoeffekt eher klimaschädlich ist? Oder gibt es dieses Bewusstsein und nimmt man den Verlust von Arbeitsplätzen und Wohlstand in Kauf, um die inländischen Klimaziele zu erfüllen?
Friedrich Heinemann: Mein Eindruck ist dass das Carbon Leakage der Abwanderung nicht immer vollständig mitbedacht wird. Das fängt ja schon bei Bürgermeistern an, die ihre Städte in wenigen Jahren klimaneutral machen wollen. Solche regional punktuellen Projekte sind für den Globus wenig sinnvoll. Da kommen mir auch Stellungnahmen von Ökonomenkollegen oft unvollständig vor. Was nützt es, wenn wir hier in einem kleinen und immer unbedeutenderen Teil der Welt die vermeintliche Dekarbonisierung durchsetzen, das in der globalen Gesamtbilanz aber durch Verlagerungen unterlaufen wird. Eins ist aber richtig: Klimapolitisch ist es sinnvoll, energieintensive Produktion auf Dauer dorthin zu verlagern, wo der Wind kräftig weht, die Sonne scheint, oder das CO2 leicht in die Erde verpresst werden kann. Und diese Bedingungen gelten für Deutschland oftmals nicht. Insofern dürfte Deutschland auf einem klimaneutralen Globus auf Dauer einen Nachteil für energieintensive Branchen haben. Insofern bin ich für energieintensive Branchen in Deutschland auch bei globaler klimapolitischer Perspektive nicht wirklich optimistisch. Da nützen auch noch so hohe Subventionen nicht, um diesen natürlichen Wettbewerbsnachteil auf Dauer zu kompensieren.
Bild Prof. Dr. Friedrich Heinemann: Anna Logue